Im Reich der hungrigen Geister
Über Sucht, Trauma und
menschliche Abgründe Einblicke von Luqman Müller ‘‘Im Reich der hungrigen
Geister“ ist der Titel eines Bestsellers von Dr. Gabor Maté, einem renommierten
und umstrittenen kanadischen Suchtexperten. So widerspricht Maté doch in seinen
Werken gängigen Annahmen über Sucht und abhängigem Verhalten. Es ist weder ein
moralisches Fehlverhalten willensschwacher Menschen, noch ist es einfach eine
Krankheit, welche einer genetischen Disposition zugrunde liegt.
Sucht ist vielmehr ein komplexes Problem, das weltweit Millionen Menschen betrifft. Insbesondere Muslime haben noch viel mehr mit Sucht zu kämpfen. Schließlich ist der Islam ja die Religion, welche am konsequentesten Alkohol und andere Suchtmittel verboten hat.
Kindheitstrauma,
Schmerz und die innere Entfremdung
Dr. Gabor Maté betont, dass ungelöstes und unbewusstes
Kindheitstrauma sowie tief verwurzelter emotionaler Schmerz oft die Wurzeln der
Sucht sind. Viele Menschen haben kein Bewusstsein über die innere Entfremdung,
welche aufgrund von frühem Mangel an bedeutungsvollen Beziehungen zu emotional
verfügbaren erwachsenen Bezugspersonen entstanden ist.
Dieses subtile Gefühl der Isolation und weitere
gesellschaftliche und kulturelle Faktoren, lässt viele Menschen zu Substanzen
oder süchtig machenden Verhaltensweisen greifen, um diesem quälenden Gefühl der
Leere und des Schmerzes zu entkommen.
Chronischer Stress und unzureichende
Bewältigungsmechanismen sind bedeutende Faktoren für die Entwicklung von Sucht.
Menschen nutzen oft Substanzen, um Stress abzubauen, sich zeitweise
auszuklinken oder schwierige Emotionen zu bewältigen.
Dr. Gordon Neufeld, ein kanadischer Psychologe und Experte
für kindliche Entwicklung betont, dass stabile und sichere Bindungen in der
Kindheit von entscheidender Bedeutung für die gesunde Entwicklung sind. Ein
Mangel an sicheren Bindungen kann zu emotionaler Verwundbarkeit und einem
höheren Risiko für Sucht führen. Wenn Kinder keine sicheren Bindungen zu ihren
Bezugspersonen entwickeln, können sie Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu
regulieren. Dieses Defizit kann dazu führen, dass sie sich Substanzen zuwenden,
um emotionalen Schmerz zu bewältigen. Neufeld betont die Notwendigkeit,
emotionale Bindungen wiederherzustellen und zu stärken, um Menschen auf dem Weg
zur Suchtüberwindung zu unterstützen. Eine starke emotionale Verbindung kann
als Schutzfaktor gegen Sucht dienen.
Ich habe über sieben Jahre als Streetworker mit schwer
abhängigen jungen Menschen gearbeitet, deren Lebensmittelpunkt auf der Straße
war. Auffällig war, dass diejenigen mit schweren Traumatisierungen dieselben
waren, welche die schwersten Abhängigkeiten entwickelt haben.
So berichtet mir ein junger Mann, welcher schon seit
einigen Jahren harte Drogen konsumierte, dass sein erster Heroinkonsum sich wie
„eine lange sanfte Umarmung“ angefühlt hätte. Als hätte er mit dem Konsum erste
Mal in seinen Leben wirkliche Liebe und Verbindung gespürt hätte. Von diesem
Topos berichtet Dr. Maté auch mehrfach in seinem Buch.
Wenn man die Betroffenenperspektive berücksichtigt, verschiebt
sich auch das gesamte Bild welches wir uns von dem abhängigen Menschen gemacht
haben. Denn die Sehnsucht nach Liebe und Verbindung ist sicherlich als Teil der
Fitra in jedem Menschen verankert. Somit wird ein Verurteilen dieses Menschen
verunmöglicht und ein barmherziger Blick, macht Mitgefühl wieder möglich.
In meiner praktischen Tätigkeit fiel mir auf, wie
insbesondere jene Betroffene mit muslimischen Background es besonders schwer
hatten, aus dieser teuflischen Suchtspirale zu entkommen. Sie waren doch
oftmals von ihren Herkunftsfamilien und ihren Gemeinden verstoßen und ihrem eigenen
Schicksal überlassen worden, geplagt und gelähmt von immensen Schuld- und
Schamgefühlen, war ihr Gesamtzustand doch ein überaus schlechter. Diese
Beobachtungen und das Erleben dieser Schicksale war der Stein des Anstoßes, mir
Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus der Community zu suchen, um gemeinsam mit
unseren wenigen Mitteln eine Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige zu
gründen.
Eine unserer Hauptaufgaben besteht darin, die Weisheiten
und Perlen unserer Tradition zusammenzutragen und für die Betroffenen
aufzubereiten.
So hat ein Mitglied unseres Teams bereits das kleine
Büchlein „Weisheiten für Suchtbetroffene: aus den Worten des sanftmütigen
Gesandten“ veröffentlicht. Dort werden ca. dreißig Hadithe, aus denen Lehren
für Süchtige aller Art abgeleitet werden können, kommentiert mit eigenen
Erfahrungen und relevanten Informationen versehen.
Erwähnt seien hier noch kurz die Arbeiten von Dr. Laleh
Bakhtiar, einer Iranisch-Amerikanischen Psychologin, welche bahnbrechende
Arbeiten zur moralischen Heilung durch das Konzept des „Futuwwa“
(Brüderlichkeit/Ritterlichkeit) veröffentlicht hat.
Bakhtiars Lehren zur koranischen Psychologie und
moralischen Heilung bieten einen Weg zur Genesung, der das Verständnis und die
Transformation des Selbst umfasst. Spirituelle Praktiken, Selbstreflexion und
moralische Entwicklung können Menschen helfen, süchtige Verhaltensweisen zu
überwinden.
Eine weitere Aufgabe besteht darin, Betroffenen eine
Plattform zu geben um sichtbar zu werden und sich gegenseitig Trost, Hoffnung
und Zuversicht zuzusprechen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Isolation,
die Mauer des Schweigens und der toxischen Scham zu durchbrechen, welche man
sich als Betroffener mit der Zeit aufbaut. Zusätzlich arbeiten wir mit den
Familien, denn Sucht betrifft immer die gesamte Familie. Schließlich ist
Co-Abhängiges Verhalten der einzelnen Familienmitglieder oftmals der Schlüssel
zur Aufrechterhaltung abhängiger Familiensysteme und -konstellationen.
Al Mudmin arbeitet daran einen ganzheitlicher Ansatz, der
sichere Bindungen, emotionale Heilung und spirituelle Praktiken umfasst, zu
entwickeln. Dieser kann effektiv sein, um Sucht zu verhindern und zu behandeln.
Durch die Förderung starker, unterstützender Beziehungen und die
Auseinandersetzung mit den tieferen emotionalen und spirituellen Aspekten der
Sucht können Menschen eine dauerhafte Genesung erreichen. Auf diesem Weg sind
wir auf die Unterstützung der Ummah angewiesen. Die Not unserer Geschwister beginnt
nicht erst in fernen Ländern, sondern sie beginnt direkt vor unserer
Nase.
Sind wir bereit nicht mehr die Augen vor ihr zu
verschließen?